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Boudjedra, Rachid

Die Auflösung

Sprechtheater

Übersetzer:in(nen): Hoffman, Monika / Salah, Tamen

Originalsprache: Arabisch
Besetzungshinweis: frei für szenische Bearbeitung, Anverwandlung, Performance

Zusatzinformation: "Die Auflösung": Eine besondere Spielart von "Familienroman" aus lauter offenen Anfängen und Enden ... Weder kann der Krieg, den Frankreich in/gegen Algerien geführt hat (1954-1962) jemals enden und POSTkolonialismus beginnen noch ist das Patriarchat zu stoppen - wenngleich dem Erzähler Metamorphosen am eigenen Leibe unterlaufen und sein Vater im Sterben liegt ... Einer Frau namens Maria/Myriam gegenüber wird der männliche Erzähler eine Scheherazade, die den Tod des Patriarchats hinauszögert - obwohl er* dieses Ende gleichzeitig ersehnt.

Aufführungsgeschichte:
Copyright durch den Autor 1984/Verlag Donata Kinzelbach Mainz 1996 + Neue Pegasus Berlin 2023
In Kooperation mit Verlag Donata Kinzelbach Mainz

In TTX seit: 03.04.2023

"Die Auflösung": Eine besondere Spielart von "Familienroman" aus lauter offenen Anfängen und Enden ... Weder kann der Krieg, den Frankreich in/gegen Algerien geführt hat (1954-1962)jemals enden und POSTkolonialismus beginnen noch ist das Patriarchat zu stoppen - wenngleich dem Erzähler Metamorphosen am eigenen Leibe unterlaufen und sein Vater im Sterben liegt ...
Rachid Boudjedra nimmt sich u.a. jener „Fäden“ an, die in Frankreich im philosophischen Schreiben von Gilles Deleuze/Félix Guattari mit „Rhizom“(1972) bzw. den „Tausend Plateaus“ (1980) zu Tage treten. So erweist sich in „Die Auflösung“ (1984) der Maulbeerbaum im Hof des Elternhauses nicht als „Stammbaum“-Allegorie sondern als Rhizom. Die Größe des Baums variiert nach Lichtverhältnissen und wächst sich in der Beschreibung des Erzählers zu einem Gebilde aus, das ins Schreibzimmer drängt, während der Vater des Erzählers und eine jüdische Ehefrau des Vaters im Sterben liegen, die Tode anderer Menschen nicht als Ende vorstellbar sind. Vielleicht geben die Worte von Deleuze/Guattari (Rhizom, 1972) eine Vorstellung von diesem Schauplatz? „Ein Bau ist in allen seinen Funktionen rhizomorph: als Wohnung, Vorratslager, Rangiergelände, Versteck und Ruine. Das Rhizom selbst kann die verschiedensten Formen annehmen, von der Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen an der Oberfläche bis zur Verdichtung in Knollen und Knötchen. Ein Rhizom ist keinem strukturalen oder generativen Modell verpflichtet. Es kennt keine genetischen Achsen oder Tiefenstrukturen.“ Der Erzähler, Sohn eines Vaters, der im Sterben liegt, entscheidet sich gegen eine kreditfinanzierte Sanierung des Elternhauses. Im Licht des Maulbeerbaumes sieht der Erzähler wie Maria/Myriam aus – die starke, revolutionäre Geliebte, die seinen Familienroman „unterwandert“ und der gegenüber er die Rolle einer Scheherazade spielt – um das Ende des Patriarchats gleichzeitig zu beschleunigen und aufzuhalten. „Sie ging so weit, zu behaupten, ich hätte etwas Feminines an mir (Darmkrämpfe), die mich an die Tragödie meines älteren Bruders erinnerten, der keiner Versuchung aus dem Weg gegangen war - im Gegenteil...). Als sie die Worte „etwas Feminines" aussprach, füllten sich meine Augen mit Tränen. Ich blickte im Dunkeln auf und sagte, zum Fenster gewandt: Das ist der Maulbeerbaum!“
Die Erinnerung an den Krieg Frankreichs in Algerien (1954 bis 1962) ist gegenwärtig, der Kampf gegen die starke, u.a. mit Napalm bewaffnete Armee der Kolonialmacht: „So blieb uns nichts anderes übrig, als nach neuen Wegen zu suchen und die Realität - wie auch die Landkarten - zu überlisten. Unsere Vorfahren hatten uns keine Strategie hinterlassen, die uns befähigt hätte, ihre Ziele und Wünsche in die Tat umzusetzen; es gab niemanden, der ihr Erbe fortführte …“ Überall und zu jeder Zeit: offene Enden.
Immer wiederkehrender Ausgangspunkt des Erzählers der „Auflösung“ ist sein Vater, der im Sterben liegt. Ihm ist aufgetragen, sich um das Begräbnis für eine der Ehefrauen des Vaters zu kümmern: Henriette Gozlan. Sie liegt ebenfalls im Sterben. Als Jüdin hatte sie alles getan, um sich ganz einer patriarchalen Spielart des Islam zu assimilieren – aber in Ermangelung von „Beweisen“ dafür droht ihr posthum Heimatlosigkeit. Wird sie weder auf einem muslimischen noch einem jüdischen Friedhof bestattet? Dem Vater, mutmaßlichem Gatten von Henriette Gozlan, war immer antisemitisches Denken eigen: Als einer seiner Söhne in eine jüdische Sängerin verliebt war, erging er sich in Beschimpfungen. Die Erinnerung an den Tod des Bruders bleibt immer wieder bei einem Kran hängen, der beim Herablassen des Sarges ins Stocken gerät: Zwischen Himmel, Meer und Erde schwebt der Sarg in der Luft - „in ihrer tiefen Traurigkeit hoffte meine Mutter, dass die Ehrung des Verstorbenen sich endlos hinziehen und die Menschheitsgeschichte überdauern würde.“ Tante Fatmas Unfalltod zu datieren erscheint unmöglich. Für eine Art „chronische Halluzination“ ist ihre Präsenz allzu plastisch, wie die sprachliche Beschaffenheit des Elternhauses überhaupt jedem „Geisterhaus“-Stereotyp zuwiderläuft, „Dekadenz“ konventionell westlicher Bauart durch vitale Dynamik physiologischer Prozesse konterkariert. Vielleicht war er, der Erzähler, acht Jahre alt damals, als die Zerteilung von Tante Fatma durch eine Straßenbahn nicht unverzüglich zum Tod führte? Die Erinnerung heftet sich an den furchtbaren Augenblick zwischen Unfall und Tod.
Mit Maria/Myriam wird eine umkehrte „Scheherazade“-Situation explizit. Erzählend zögert er, eine männliche Scheherazade, das Ende (seiner Familie) hinaus. Fortpflanzung widert ihn an, Sex ist allgegenwärtig. Das Schreiben – immer zugleich als mündliches Erzählen, als Bewusstseinsstrom spürbar, der wie ein Sekret an die Papier-/Hautoberfläche tritt – wird zu einem erotischen Akt unter den Augen der Frau. Er identifiziert sie als potenzielles Opfer des traditionellen Patriarchats, empfängt sie mit der Dankbarkeit eines Rebellen, der zu müde für Rebellion ist. Er ist es, der auf sie alle Hoffnungen auf Überwindung des Patriarchats setzt und ihr gleichzeitig „die Geschichte meines Vaterhauses erzählen“ möchte, um „die Riten und Märchen des Stammes wieder aufleben zu lassen“. Wenn er seine Allianz mit Maria/Myriam aber als „eine Form der biologischen Koexistenz, eine Art Symbiose“ erkennt, ist der Erzähler längst in ein Werden eingetreten, dem die Metaphorik von Baum, Stamm und Stammbaum ebenso wie eine konventionelle „Geschichtsschreibung“ entglitten sind (vgl. Deleuze/Guattari, Tausend Plateaus).
Dem Erzähler ist bewusst, dass Tinte und Feder – sein Schreibgerät – jener ehemals sumpfigen Region an Euphrat und Tigris substantiell verwandt sind, die Sklaven (die „Zandj“), unter unmenschlichsten Bedingungen im 8. Jahrhundert kultivierten. Maria/Myriam injiziert dem „Scheherazade“-Drehbuch des Erzählers eine Geschichte der Aufstände der Zandj. Diese Scheherazade ist mit einer psychoanalytischen Kompetenz ausgestattet, die ein unablässig reproduziertes Patriarchat unterwandert. Nicht sie ist es, die mit ihren Erzählungen Liebesakt und Tod hinauszögert. Es ist jenes unaufhörliche Erzählen des Mannes, der ein Ende seiner Familie hinauszögert. Der wechselnde Name der Frau spielt auf den Namen Marias im Koran an, lässt jedoch auch die Schwester von Moses und Aron erahnen. Ein anderer – utopischer – (Aus)Gang oder Anfang des Erzählens und/oder der Geschichte/n ist allgegenwärtig. Kolonialismus, Patriarchat, Rassismus und Antisemitismus in Europa und/oder im arabischsprachigen Kulturraum sind – schmerzhaft – präsent.

Deleuze/Guattari „Tausend Plateaus“:
Alles Werden ist ein Minoritär-Werden. … Vielleicht ist gerade die besondere Stellung der Frau im Verhältnis zum Standard-Mann der Grund dafür, dass alle Arten des Werden, da sie minoritär sind, durch ein Frau-Werden hindurchgehen. … Wie die Black Panthers sagten, müssen sogar die Schwarzen schwarz werden. Sogar die Frauen müssen Frau werden. Sogar die Juden müssen Jude werden (dazu gehört mehr als nur ein Status). Aber wenn das so ist, dann betrifft das zwangsläufig ebenso die Nicht-Juden wie die Juden. Frau-Werden betrifft Männer ebenso wie Frauen …“
[Félix Guattari/Gilles Deleuze. Kapitalismus und Schizophrenie - Tausend Plateaus. Aus dem Französischen übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Vouillé. Herausgegeben von Günther Rösch. Merve Verlag Berlin 1992 (Les Éditions de Minuit, Paris 1980)]

Rachid Boudjedra (*1941) gehört seit den 1970er Jahren zu den prägenden Stimmen post-kolonialer Maghreb-Literaturen. Nach „Die Zerfaserung“ war „Die Auflösung“ der zweite Roman, den der Autor zunächst in arabischer Sprache verfasste – nicht in französischer Sprache, der Sprache einer Kolonialmacht. Boudjedra schreibt mit und zwischen den Sprachen. In Algerien stieß seine Kritik an Patriarchat, fundamentalistischem Islam und Heiligenlegenden algerischer Autonomie zunächst „nur“ auf Ablehnung und brachte ihm Zensur ein, bevor „Prinzip Hass – Pamphlet gegen den Fundamentalismus im Maghreb“ (Éditions Denoël Paris 1992/Verlag Donata Kinzelbach Mainz 1993) lebensgefährlich für ihn wurde.
Die Geschichte kolonialistischer Gewalt, wie sie Frankreich und andere Kolonialmächte nicht zuletzt im Algerienkrieg ab 1954 verübten, ist seinem Werk eingeschrieben. François Mitterrand, in der Bundesrepublik bis heute auf seine Rolle in der französisch-deutschen Versöhnung reduziert, tritt bei Boudjedra (im oben zitierten Manifest) am Festtag Allerheiligen 1954 mit diesen Sätzen in Erscheinung: “Es bedarf gnadenloser Unterdrückung! Meine Herren, Frankreich von Flandern bis zum Kongo!” Die Vollstreckung von Todesurteilen gegenüber algerischen Widerstandskämpfern wäre ohne Mitterand in seiner Rolle als Innen- bzw. Justizminister nicht möglich gewesen. Die Bewunderung Mitterands für Marschall Pétain – und damit die Kollaboration mit den Nationalsozialisten durch das Vichy-Regime – ist bei der Versöhnung zwischen Deutschland und Frankreich in der Kohl-Mitterand-Ära ebenso unter den Tisch gefallen wie seine Rolle im Rahmen des kolonialistischen Mord- und Folter-Regimes in Algerien. Rachid Boudjedras Geschichte/n der Gewalt machen nirgendwo opportunistisch Halt: Neben dem Kolonialismus des Westens sind der islamistische Terror, der Opportunismus von Intellektuellen in Algerien und die westliche Ideologie von Konsumismus und Opportunismus Gegenstände seiner Kritik im Manifest.

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